Bonus-Kurzgeschichte

Du hast "Wir bleiben, wenn wir gehen" gelesen und möchtest gerne ein oder zwei weitere Minuten mit Sage verbringen?

Die folgende Kurzgeschichte habe ich auf einer alten Speicherplatte gefunden und dachte, dass es schön wäre, sie hier mit euch zu teilen. Sie ist einmal im Rahmen einer Schreibchallenge mit der Aufgabe "Die Definition von Liebe" entstanden, wurde aber letztlich nie von irgendjemandem außer mir selbst gelesen. In der folgenden kleinen Geschichte geht es also um Sage, und was Liebe für sie bedeutet. Sie heißt "Wir bleiben, wenn wir lieben", und ich wünsche euch ganz viel Spaß damit.


Wir bleiben, wenn wir lieben

Das Mädchen starrt auf ihre Hände, als ob sie gerne etwas darin halten würde. Zum Zeichnen, zum Schreiben, zum Rauchen - zum mehr tun, als untätig herumzusitzen.

Geistesabwesend hebt sie eine an und beginnt damit, eine Haarsträhne zwischen den Fingern zu zwirbeln. Ihre Nägel sind kurz und gepflegt, die Gelenke schmal, die Finger feingliedrig. Sie bewegen sich ein bisschen hektisch, aber nicht ganz so linkisch, wie man es vielleicht erwarten würde. 

"Sage."

Sie blickt kurz auf. Ihre Augen sind tiefbraun, ein eigentlich warmer Ton, aber in ihren schlummert immer auch ein kleiner Funken Kälte, ein Hauch von Distanz. Es lässt einen innehalten, es lässt einen nicht los. Dann senken sich ihre Wimpern wieder. Als ein Lichtstrahl aus dem Fenster auf sie trifft, weil die Sonne heute doch einmal zwischen den dicken Wolken hervorschaut, schimmern sie hellblond. 

"Wie würdest du Liebe definieren?"

Dieses Mal sieht sie nicht wieder auf, starrt vielmehr konzentriert auf ihre Hände, mustert die Finger und Gelenke so akribisch, als ob sie versucht, in den Lebenslinien auf den Innenflächen eine Antwort zu finden. Und vielleicht tut sie das auch. 

Aber über ihre Lippen huscht kein Wort.

"Sage."

Sie blinzelt.

"Könntest du bitte antworten? Wie definierst du Liebe?"

Blinzeln. Kopfschütteln. Ein merkwürdiges, flüchtiges Handgeflecht aus Bewegungen in der Luft, das so schnell entsteht und wieder vergeht, dass man es beinahe übersieht. Dann blickt sie auf. Ein Hauch Verärgerung schimmert in ihren Augen.

"Kann man das? Liebe definieren? Das würde ja bedeuten, dass man einen alpgemeingültigen Lexikoneintrag schreiben kann. Ich mag Worte. Wahnsinnig gern. Aber nicht jedes davon ist auch für jeden das richtige."

Sie spricht schnell, aber nicht schüchtern, und ganz sicher nicht unüberlegt. Ihre Stimme ist nicht besonders laut, aber da ist eine leichte Schärfe in ihre, die sicher dafür sorgen kann, dass sich so manchem die Nackenhaare aufstellen.

"Wie definierst du sie denn?"

Jetzt schnaubt sie. Es ist das erste Mal dass sie sich eine derartige Reaktion entlocken lässt. Dann füllt sich der Raum wieder mit geladenem Schweigen und einer von Gedanken dicken Luft. 

Plötzlich geht die Tür auf. Ein junger Mann mit ungestümen Locken und einer schief sitzenden Brille steht dahinter. Er bleibt vor der Schwelle stehen, lässt ihr den Raum, den sie braucht.

"Sage? Kommst du? Die Zeit ist um, wir müssen in unsere eigene Geschichte zurück."

Ihr Gesicht erhellt sich, als sie ihn sieht. Sie steht auf, und all ihre Züge fangen an zu leuchten, und ihre Bewegungen verlieren den letzten Rest Ziellosigkeit, während sie in aller Ruhe auf ihn zuschlendert. Im Vorbeigehen kann man einen Blick auf ihr Lächeln erhaschen, und das ist der Moment, da weiß ich, dass sie weiß, was Liebe ist.

Und ich weiß auch, dass das das einzige ist, das zählt.